Chacrinha, eine olympische Geschichte

Rio de Janeiro – Man solle nicht die falsche Abzweigung nehmen, empfiehlt ein Tankstellen-Mitarbeiter an einer Zapfsäule lehnend. Es sei sonst gefährlich, sagt er. Ziel ist Chacrinha, eine im Westen Rio de Janeiros gelegene Favela.

Rund 5000 Menschen leben in dieser Gemeinde, eingezwängt zwischen den Vierteln Tanque und Praça Seca. Die Cidade de Deus, dieses berüchtigte Armenviertel, das Paulo Lins in seinem Roman verewigt hat, ist nicht weit weg. Die Fahrt aber führt nach Chacrinha. Dort existiert der olympische Gedanke; man muss nur ein blau lackiertes Tor aufstoßen und eine Sporthalle betreten.

Auf den Dächern der rohen Ziegelbauten in der Umgebung lassen Kinder Drachen steigen, wie bunte Farbtupfer wirbeln sie am Himmel. Es wirkt unbeschwert, dabei versuchen Drogenbanden auch hier, Mädchen und Jungen für ihre Geschäfte einzuspannen. Schon von weitem hallt ein Jauchzen, man hört auch etwas, das wie leichte Peitschenhiebe klingt. Es sind die Geräusche, wenn man in einer Halle mit einem Badmintonracket Federbälle schlägt. «In dieser Favela steckt so viel Potenzial», sagt Sebastião Dias de Oliveira und breitet seine kräftigen Arme aus, als wolle er bemessen, wie viele Möglichkeiten Menschen selbst unter schwersten Bedingungen haben können.

De Oliveira ist Architekt und Projektleiter von Miratus. Gegründet hat er diese gemeinnützige Organisation 1998. Sie will Bildung und Sport vermitteln. Badminton spielt da die entscheidende Rolle. Eigentlich wollte de Oliveira einen Pool bauen. Er hätte Anlaufpunkt für die Kinder in dem Viertel sein sollen, um nicht auf die schiefe Bahn zu geraten. «Dann hat mich der Sport ausgesucht», sagt er.

Die Halle, in der rund 200 Mädchen und Jungen aus der Nachbarschaft trainieren, hat er mit seinen eigenen Händen förmlich aus dem Boden gestampft, wie er es erzählt. «Ich habe um acht Uhr morgens begonnen und gegen zehn Uhr nachts aufgehört. Ich hatte keine Maschinen. Die Maschine war ich», sagt de Oliveira und klopft sich mit seiner rechten Hand auf den linken Oberarm. «Ich habe jeden Tag ein bisschen was geschafft, um so weit zu kommen.»

Es war ein kaum vorstellbarer, schmerzhafter Weg. De Oliveiras Mutter arbeitete erst als Hausmädchen, ihren Sohn durfte sie nicht bei sich behalten. Von seinem siebten bis zum zwölften Lebensjahr war er ohne Kontakt zu ihr, bis zum 18. Lebensjahr wuchs er in einem Waisenhaus auf. Nach dem Tod der Hausherren zog seine Mutter nach Duque de Caxias, ihr Geld verdiente sie auf der Müllkippe Gramacho. Sie sammelte verwertbares Material wie Kunststoff und verkaufte es an Zwischenhändler. In den Ferien durfte de Oliveira sie besuchen.

«Ich dachte, wir lassen Drachen steigen und spielen zusammen Ball», erinnert er sich. «Stattdessen wühlten wir uns durch den Müll. Wir mussten unser Essen gegen Geier verteidigen.»

Am Rande der Halle mit ihren drei Badmintonfeldern liegen Flipflops verstreut, eines der Kinder hat die Vorlage eines Malbuchs liegen lassen. Viele von ihnen haben Turnschuhe an, einige spielen barfuß. De Oliveira hat aus dem ersten Stock einen direkten Blick auf den Wirbel auf dem orangefarbenen Feld. Vor Beginn des Trainings herrscht für die Kinder aber zunächst absolute Ruhe. «Ohne Disziplin würde Chaos herrschen», meint Marcos Santos lächelnd. Aus den Boxen dröhnt dann Samba, die Kinder wärmen sich im landestypischen Rhythmus auf.

Als kleiner Junge hat Santos hier selber angefangen zu spielen, mittlerweile ist er einer von fünf Lehrern. «Sebastião ist ein bisschen verrückt und ein bisschen ein Held», sagt er und schmunzelt. «Das hier alles ist seinem Idealismus entsprungen, er hat selbst die Zementsäcke geschleppt. Die Menschen brauchen Idole.»

Als die ersten Artikel in brasilianischen Zeitungen erschienen, wurden auch Gönner auf de Oliveiras Projekt aufmerksam. Die einen spendeten Schläger, Federbälle und Kleidung, andere halfen mit Baumaterial. An der Flanke der Halle sind noch Fotos von damals zu sehen, als man von einem Badmintonzentrum nur träumen durfte. «Alles, was ich gespart habe, steckt in diesen Mauern», sagt de Oliveira, der im Staatsdienst als Lehrer arbeitet.

Badminton, dazu kam er nur durch Zufall. Ein Kollege überreichte ihm einmal einen Schläger. De Oliveira war völlig verdutzt, er kannte den Sport überhaupt nicht. «Bad… was?!» So geht es in Brasilien auch heute vielen Menschen. Populär ist der Sport nicht. De Oliveira hat an der Wahrnehmung aber schon einiges geändert, seinem Sohn Ygor Coelho de Oliveira wird vielleicht noch viel mehr gelingen.

Es ist kurz vor dem Auftakt der Badminton-Wettbewerbe bei dem milliardenschweren Mega-Event namens Olympia, als er nochmals die Halle seines Vaters besucht. Die Kinder flippen aus, als der 19-Jährige mit dem strahlenden Lächeln die Halle betritt. «Ygor, Ygor, Ygor!», skandieren sie und umarmen ihn wild. Er ist einer von ihnen, er ist einer, der kaum Vergleichbares geschafft hat.

Ygor Coelho de Oliveira ist im Miratus groß geworden, zusammen mit Lohaynny Vicente ist er der erste Brasilianer, der für sein Land im Badminton startet. «Dieses Projekt hat mein Leben verändert», sagt er. Sein Vater sei sein Idol. Die Nummer 64 der Weltrangliste trifft nun am Samstag auf den 72. aus Irland, Scott Evans, ehe tags darauf der Ranking-14. Marc Zwiebler aus Bonn wartet.

Sebastião Dias de Oliveira trommelt mit seinen Fingern auf den weißen Plastiktisch im Aufenthaltsraum, wenn er etwas betonen will. Wenn es um Armenviertel geht, will der 51-Jährige viel betonen. Kurz vor der Fahrt nach Chacrinha ist Judoka Rafaela Silva aus der berüchtigten Favela Cidade de Deus Brasiliens erste Olympiasiegerin in Rio geworden. «In einer Favela leben nicht nur Diebe», betont de Oliveira. «Auch in einer Favela leben echte Sieger, man muss ihnen nur die Chance geben, das auch zeigen können.»

Die Spirale von Armut, Gewalt und Kriminalität verläuft fast beiläufig. Kinder ohne Perspektive fühlen sich von Mitgliedern der Drogenbanden leicht angezogen. «Sie sehen diese ekligen Jungs mit ihren fetten Motorrädern und den hübschen Mädels hinten drauf als Idole an», beschreibt de Oliveira die Versuchung in diesen vielen vom brasilianischen Staat vergessenen Vierteln.

Die Kinder bekämen Präsente, erst vielleicht einen Açai-Saft, später mal eine Quentinha, ein warmes Essen aus einer Aluminiumschale. Das würde imponieren. Dann beauftragen die Drogenbanden die Mädchen und Jungen mit ersten Botengängen. Anstatt den Rucksack mit Schulbüchern zu packen, landen darin Päckchen mit Rauschmitteln.

«Diesen Abstieg merken die Kinder gar nicht, weil die Treppenstufen nach unten so schmal sind», sagt de Oliveira. «Sie wachsen in dieses Milieu hinein, bekommen Respekt von Freund und Feind, werben untereinander für dieses Leben und werden blutrünstige Verbrecher.»

Er selber hätte auch ein Krimineller werden können, er hatte aber Glück, die richtigen Vorbilder, erzählt er. «Wenn ich fünf Kindern helfen kann und sie das gleiche machen, was ich mache, dann kann ich glücklich sterben», sagt de Oliveira.

Seine Halle steht den Kindern jeden Tag offen. Und sie kommen. Aus einigen von ihnen werden auch Sieger, wenn man nach sportlichen Titeln geht, wie etwa den Panamerikanischen Jugendmeisterschaften oder den Südamerikanischen Jugendspielen. Der Aufwand, um es bis an die Spitze zu schaffen, ist jedoch immens. «Wir sind zu einem Turnier nach Curitiba gefahren, 14 Stunden hin und 14 Stunden zurück mit acht Kindern im Auto», erzählt de Oliveira. Als er später in einer TV-Dokumentation über Miratus gesehen habe, wie sie auf dem Boden schlafen mussten und kaum etwas zu essen hatten, seien ihm die Tränen gekommen.

Für Sebastião Dias de Oliveira bemisst sich Erfolg nach eigenen Maßstäben. «Mein ganzer Reichtum sind die Kinder. Sie alle sind die Freude meines Lebens», sagt er, beugt sich über den Tisch und kommt einem ganz nah. Ob sein Sohn nun ein Spiel bei Olympia gewinnt oder nicht, das sei für ihn nicht entscheidend. Alleine, dass er sich qualifiziert habe und ein Idol für andere Kinder sein könne, das sei wichtig. «Ich will, dass er ein guter Mensch ist, dass er ein Vorbild ist, dass er keinen Menschen ablehnt», sagt sein Vater. «Das ist für mich viel mehr Wert als eine Medaille.»

Fotocredits: Peter Bauza,Peter Bauza,Peter Bauza
(dpa)

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