Herzkrank gegen die Räumung: Der Widerstand von Matheus

Rio de Janeiro – Matheus Franco weiß, dass zu viel guter Wille ihn sein Leben kosten könnte. Sein einziger Schutz gegen den Tod wölbt sich unter der nackten Haut.

Über der linken Brust zeichnet sich etwas Viereckiges ab, es hat die Form einer kleinen Taschentuch-Packung, ist aber ein Defibrillator. Wenn sein Herz mal wieder aussetzen sollte, jagt das Gerät einen Elektroschock durch seinen Körper. Wenn alles gut läuft, schlägt sein Herz danach wieder. Matheus ist 23 Jahre alt.

Obwohl er so jung und obwohl er so krank ist, kommt er fast jeden Tag in eine kleine Favela am Rande des Olympiaparks in Rio de Janeiro. Er unterstützt seit Monaten die letzten Rebellen der Vila Autódromo. 3000 Menschen haben hier mal gewohnt, 700 Familien, dann kam 2009 der Zuschlag für Olympia. Hunderte nahmen das Angebot an, in sehr einfache Appartements am Rande Barras umgesiedelt zu werden, 20 Familien wollten bleiben. Matheus unterstützte ihren Aufstand, weil sein Freund Ramon in der kleinen Favela bleiben wollte. Von Investoren des milliardenschweren Olympia-Projekts wurde die Siedlung als «Schandfleck» bezeichnet.

«Wir haben gekämpft und wir kämpfen weiter. Vielleicht war das Problem, dass die Vila Autódromo eine so friedliche Favela ist. Das machte es den Investoren leicht, sie zu räumen», sagt Matheus. Er ist im Moment mal wieder krank geschrieben, hängt aber trotzdem in der Favela rum. Das Bild ist skurril: Wo früher Hunderte Bruchbuden standen, stehen heute 20 kleine, enge, weiße Häuschen. Nur eine Straße hat die Vila Autódromo. Gleich nebenan stehen ein teures Hotel und das Pressezentrum der Spiele. Dahinter befindet sich der Olympiapark mit seinen zahlreichen Sportstätten. An den Häusern der Favela kleben Plakate: «Olimpíadas – para quem?» – «Olympia, für wen?»

«Ich glaube, ich kann für alle sprechen, die hier wohnen», sagt Matheus: «Niemand würde jemals einen Fuß in diesen Park setzen. Die Tickets sind zu teuer und Olympia bringt den Menschen hier nichts Gutes.» Wer sich mit Matheus unterhält, hat nicht den Eindruck, dass in seiner Brust ein seltener Tumor sitzt. Seit seiner Kindheit sei der da, sagt er. Als er zwölf war, habe sein Herz zum ersten Mal ausgesetzt, als er Fußball spielen war. Er sei dann hingefallen, liegen geblieben, in irgendeinem Krankenhaus wieder aufgewacht. Weil er Glück hatte. Sport darf er seitdem nicht mehr machen.

Matheus trägt unten eine Shorts und oben herum nur ein paar Ketten um den Hals. Auf seinen Armen sind Tattoos, in den Nasenlöchern hat er ein Piercing, seine langen Haare sind zum Zopf gebunden. Matheus sagt, dass er in einem Finanzunternehmen arbeitet, wenn er nicht krankgeschrieben ist. Das einzige, was an ihm auf den ersten Blick ungesund wirkt, ist das kleine Ding unter seiner Brust. «Meine Lebensversicherung», sagt Matheus.

Seitdem feststeht, dass sie bleiben dürfen, bemühen sich die Bewohner der Favela um Normalität. Der wohl kurioseste Versuch dazu ist das «Casa Hippie», das Hippie-Haus auf der Ecke. Das ist zwar alles andere als «normal», schafft aber vielleicht gerade deswegen ein Gefühl der Behaglichkeit. Das «Casa Hippie» gibt es nur hier.

Dort sitzt Matheus‘ Freund Ramon auf einem kleinen Hocker und bastelt. Auf einem Tisch vor ihm stehen dicke bunte Rollen mit Wollgarn. «Das ist hier die Idee, ein Zentrum für die Bewohner zu schaffen, ein Treffpunkt», sagt der 29-Jährige. Matheus und seine Freundin Talita sind oft hier, auch die 21 Jahre alte Juliana mit ihrem zweijährigen Sohn David.

Außer Ramon wohnen sie alle nicht in der Favela, sie alle kommen aber regelmäßig her. David spielt dann mit anderen Kindern auf der Straße, Hunde jagen Bällen hinterher, alte Leute fegen vor ihrer Haustür. Sie haben lange dafür gekämpft, dass die Kinder hier mit den Hunden spielen können. Einmal hat sich Matheus in dieser Zeit zu sehr aufgeregt, als die Polizei mal wieder versucht hatte, Bewohner mit Gewalt zum Gehen zu bewegen. Er musste sich dann auf den Boden legen, schloss die Augen, dachte an seinen Defibrillator. Er ließ ihn nicht im Stich.

Fotocredits: Michael Kappeler
(dpa)

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