Müll statt Gold: Die andere Seite von Rio

Rio de Janeiro – Als Michael Phelps geboren wurde, wühlte Andreia Cunha schon im Müll. Der US-Schwimmstar hat dank seiner fünf Olympiasiege in Rio nun mit 23 Goldmedaillen fast genauso viele wie Brasilien seit 1920 gewonnen.

Andreia Cunha hat noch nichts in ihrem Leben gewonnen. Sie sitzt auf einem weißen Plastikstuhl, umgeben von dem Geruch nach verbranntem Plastik, über ihr die Geier.

Wir sind immer noch in Rio de Janeiro. Aber dieser Ort ist gefühlt so weit weg von der olympischen Glitzerwelt wie Rio de Janeiro vom griechischen Olympia. Dabei sind es nur rund 20 Kilometer bis zum Olympia-Boulevard, wo das Olympische Feuer lodert und Zehntausende Menschen jeden Tag Olympia ein wenig wie Karneval im Winter feiern.

Das hier ist Gramacho. Oben von einer Anhöhe sind zu sehen: Riesige Müllareale, Rauchschwaden von verbranntem Müll, dazwischen dutzende Holzbaracken, Kinder die hier spielen. Hier ist der Staat nicht mehr präsent. Irgendwo in den Baracken sollen kleine Crack-Küchen sein, gestohlene Autos werden hier deponiert, bis etwas Gras über die Sache gewachsen ist. Das Gebiet wird von Rios Müllmafia und Drogenbanden kontrolliert. Hier kommen meist nachts Lastwagen mit Müll unbekannten Inhalts an – die Entsorgung kostet deutlich weniger als die legale.

Die Menschen die hier leben, durchsuchen und trennen Müll, für ein paar Reais. Bis vor einigen Jahren war in der Nähe eine der größten Kippen Südamerikas, von hier sickerten kontaminierte Abwässer in die angrenzende Guanabara-Bucht, wo bei Olympia gesegelt wird. Das ganze Gas im Berg wird heute herausgezogen und in einem Gaskraftwerk in Energie umgewandelt. Es gibt in Gramacho auch legale Müllentsorgung und Recyclingunternehmen. Ein Pars pro Toto für Rio: Widersprüche, legale und illegale Welt dicht beieinander. Zurück zu Andreia Cunha.

Sie lebt im elenden Teil von Gramacho. Nein, gesund sei die Arbeit der Menschen sicher nicht, meint sie. Auch Elektrogeräte werden hier ausgenommen, Cunha leidet unter schwerem Bluthochdruck. Was sofort auffällt: Hier leben nur Schwarze. Und die Drachen der Kinder, die sie kunstvoll am Himmel steigen lassen, fliegen inmitten von Geiern.

Aber auf dem staubigen Platz ihrer Müll-Siedlung, in der verstreut rund 1000 Menschen leben, ist heute Feiertag. Cunha sitzt dem Kardiologen Mohamed Wafae gegenüber, in der Stadt müssen Patienten oft wochenlang auf einen Termin bei ihm warten. Hier stehen rund 50 Leute in der Schlange, die alle noch drankommen. Er behandelt umsonst. «Gerade jetzt während Olympia ist es wichtig, Präsenz zu zeigen, Zeichen der Hoffnung geben», sagt er. Er drückt Andreia Cuhna sechs Packungen Tabletten gegen den Bluthochdruck in die Hand.

«Wir sind sehr dankbar, sonst hilft uns keiner», sagt Cunha. Einmal an einem Samstag pro Monat kommt die «Missão Amor que Cura» («Mission der Liebe, die heilt») vorbei, ein soziales Hilfsprojekt, das von dem Franziskaner Frei Paulo 2015 gegründet worden ist. «Es gibt Menschen in Gramacho, die sterben an Hunger», sagt Paulo. Stets freundlich, völlig in sich ruhend, gerade 33 Jahre alt. Ein stiller Held für die Menschen in Gramacho – und in Rio bereits berühmt für seinen Einsatz.

Im Hospital São Francisco hatte der Pater einen Mann gesehen, der im Müll verdorbenes Essen heraussuchte. Das könne man doch nicht mehr essen, so der Pater. Da wo er herkomme, würden sich die Leute darüber freuen, meinte der Mann. So erfuhr Paulo vom Leben in Gramacho. Und er gewann Leute wie den Kardiologen Wafae, sich hier zu engagieren.

50 Meter neben seiner Freiluft-Sprechstunde liegt ein kleines Mädchen im Zahnarztstuhl. Der steht auf einer schwarzen Plane, im Hintergrund das, was hier am meisten herumliegt: Müll, herbeigeweht von den wilden Müllkippen. Ein vor sich hin schnurrender Generator spendet Strom, um Wasser zum Mundspülen aus einem Kanister hochzupumpen.

Isabel Montano ist normalerweise Zahnärztin bei der brasilianischen Luftwaffe. «Ich will helfen», sagt sie. Bis zu 40 Patienten schafft sie an einem Samstag. Dann gibt es noch einen Friseur, inklusive Augenzupfen. Egal wie schlimm es ist: Schönheit, ausgefallene Frisuren, grell lackierte Fingernägel – das ist auch in Gramacho wichtig. Und: Säcke voller Kleiderspenden finden reißenden Absatz, es hat etwas von Jahrmarkt. Hier zeigt sich positiv die Kraft der katholischen Kirche.

Getreu des Ansatzes von Papst Franziskus, zu den Menschen an der Peripherie zu gehen. «Hier sind wir schon jenseits der Peripherie», sagt der Hauptgeschäftsführer des Hilfswerks Adveniat, Prälat Bernd Klaschka, der sich das Treiben anschaut. Adveniat unterstützt das Projekt. Klaschka fragt sich, was man hier nur mit einem Bruchteil der Olympia-Kosten machen könnte – er hat auch die Olympia-Stimmung aufgesogen, auf Initiative des Erzbistums von Rio de Janeiro wurden Straßenkinder mit zum Beachvolleyball und Fechten genommen.

Einer Frau, deren Hütte in Gramacho abgebrannt ist, hat Klaschka versprochen, sich um eine rasche Lösung zu kümmern. Sie weint fast vor Dankbarkeit. In Zeiten der Flüchtlingskrise, der starken Beschäftigung mit der Situation daheim, werde es aber schwerer, in Deutschland Solidarität für das Leid in Lateinamerika zu wecken.

Ein Franziskaner-Partner spielt Guitarre, Reis mit Hühnchen wird für die mehreren hundert Menschen hier gekocht, und es gibt sogar einen Hauch von Olympia: Bunte Ringe liegen auf dem Boden, die Kinder hüpfen von einem zum nächsten. Warum der Staat dem illegalen Abkippen von Abfällen nicht Einhalt gebietet und den Menschen hilft, eine andere, sichere Arbeit zu finden? «Das ist die große Frage», sagt Missionsmitglied Gilmar Santos (49). Viele Menschen seien krank hier.

Besuch in der Baracke von Maraluisa Gomes. Auf engsten Raum lebt sie hier mit ihren drei Kindern, sie sucht nicht auf den illegalen Kippen Müll, sondern in der Nähe von Gramacho und bekommt bei einer Annahmestelle 40 Reais pro Sack, etwas mehr als zehn Euro. «In der Woche schaffe ich einen, maximal zwei Säcke.» An der Wand hängt ein Bild mit einer weißen, gen Himmel schwebenden Taube. Darunter ein Psalm, man solle den Weg zum Herrn gehen, in ihn Vertrauen, er kümmere sich.

Eine Schwester der von Mutter Teresa gegründeten Missionarinnen der Nächstenliebe gibt ihr den Segen. Draußen vor dem Haus steht völlig verdrecktes Wasser, fließendes gibt es nicht. Wunderbare Brutstätten für Moskitos, hier gibt es im Sommer viel Zika und Dengue-Fieber. Olympia? Nicht, dass es sie nicht interessiert. «Aber ich kann mir keinen Fernseher leisten.» Der Name Michael Phelps sagt ihr nichts.

Fotocredits: Peter Bauza
(dpa)

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