Rio, erzählt in einer Straße

Rio de Janeiro – Alfredo sitzt jeden Abend auf diesen drei gelben Plastikstühlen. Und wartet. Auf Musiker, die ihre Instrumente auspacken und anfangen, feinsten Samba und Bossa Nova zu spielen.

«Pssssst», zischt er Touristen an, die reden. Mit harter Hand führt der Hausherr des Bip Bip hier sein Regiment. Aus Rücksicht auf die Nachbarn darf nicht geklatscht, sondern Applaus nur mit den Fingern geschnipst werden. 1968 eröffnet, gehört der charmanteste Sambaladen von Copacabana seit 32 Jahren ihm. Hier wurden Karrieren geboren.

Das Bip Bip ist das «Wohnzimmer» der Bewohner der Rua Almirante Gonçalves – mit 300 Metern eine der kürzesten Straßen in ganz Rio de Janeiro. Aber sie hat all das, was diese Stadt ausmacht, man darf nur nicht achtlos hindurcheilen. Sondern muss in die Läden hineingehen.

Im Bip Bip summen sie die Herz-Schmerz-Lieder mit, tanzen, lassen den Tag ausklingen. Es ist eigentlich nur eine Garage, Alfredinho (73), wie ihn alle nennen, sitzt am Eingang, führt Strichliste über das Dosenbier, das die Gäste dem Kühlschrank entnehmen. Neben ihm steht ein Telefon auf einem Tisch. Klingelt es, krächzt er Unverständliches in den Hörer und knallt wieder auf. Warum sitzt er auf drei Stühlen? «Damit ich besser ans Telefon rankomme.» Die Frauen huldigen ihm.

Das ist der Abend in der Rua Almirante Gonçalves – doch wie sieht der Alltag am Tag in dieser Straße aus, die direkt von der berühmten Strandpromenade in Copacabana abgeht? Was für Menschen leben und arbeiten hier? Hier gibt es unter anderem: Zwei Banken, drei Imbisse, einen Lottoladen, ein Hotel, die 50 Jahre alte Wäscherei «Branca de Neve» («Schneewittchen»), zwei Friseursalons, einen Schlüsselladen.

An Steintischen treffen sich jeden Tag Männer zum Kartenspielen, darunter an diesem Tag ein 82-jähriger früherer Telegrafist der Marine, der von Erlebnissen im Suez-Kanal berichtet. Benannt ist die Rua Almirante Gonçalves nach einem Militär, der im Krieg gegen Paraguay (1864-70) gekämpft hat. Ein Spaziergang durch ein Panoptikum der Olympiastadt – die ganz wunderbar das Leben hier widerspiegelt.

HERRENSALON GINO: Hinein in die 60er Jahre. Uralte Friseurstühle, eine noch ältere Registrierkasse mit Kurbel, Rasierpinsel – und viel Patina. Am Eingang liegen ältere Playboy-Ausgaben, die Preistafel ist handgeschrieben, der Herrenschnitt kostet 33 Reais, knapp zehn Euro. Francisco das Chagas arbeitet hier seit 13 Jahren, jeden Tag fährt er drei Stunden vom Vorort Novo Iguazu hin- und zurück, um für 300 Euro Monatslohn hier zu arbeiten. Warum tut er sich das? Ich bin hier geboren, aber die Mieten kann ich nicht mehr bezahlen, das hier ist meine Heimat.» Ab und zu rennen Diebe am Laden vorbei, die am Strand was geklaut haben. «Das ist hier quasi ihre Durchgangsstraße.»

Ein neuer Kunde kommt rein, Claudio Anuysio hat amerikanische Vorfahren. Er salutiert, singt die US-Hymne. «God bless America.» Bricht in schallendes Gelächter aus. Ach, Rio. Die Menschen lassen sich die tiefe Krise nur selten anmerken, es wird gequatscht und gelästert, über Fußball, stressige Ehefrauen, neueste Liebschaften.

Unberührt vom Trällern der US-Hymne stutzt sich Jaime da Rocha Souto am Spiegel selbst den grauen Oberlippenbart. 81 ist er. «Du alter Sparfuchs, willst nichts zahlen und machst’s Dir selbst», ruft Francisco (62) rüber. Jaime war wegen Herzproblemen sieben Monate ausgefallen, er darf eigentlich noch gar nicht wieder arbeiten. Aber die Rente ist karg und er liebt sein Handwerk. Er wohnt in der Nähe, aber in ärmlichen Verhältnissen, in der Favela Vidigal. Hellblaues Hemd, schwarze Hose, blank geputzte schwarze Lederschuhe. Hier ist die Flip-Flop-Welt vom Strand fern. Alles akkurat, Barbier mit Stil.

RESTAURATEUR DER HEILIGEN: Draußen vor der Banco do Brasil sitzt Ronaldo Bergamine – seit acht Jahren. «Ich habe so lange in einem Atelier gearbeitet, abgeschlossen von dem Land draußen», erzählt er. «Ich liebe die Leute hier, es ist wie eine Familie, jeder kennt jeden, ich bin mitten im Leben.» Er spachtelt gerade eine Marien-Figur ab, die «Nossa Senhora das Dores», («der Schmerzen»). Schmerzhaft, das trifft auch auf Ronaldos Leben zu. Der Vater Alkoholiker, mit zehn Jahren abgehauen, auf der Straße gelebt, all die Brutalität dieser Stadt erfahren, die hinter der schönen Samba-und Caipi-Fassade lauert. Nach ein paar Jahren holte ihn ein Mann namens Helio Sarda von der Straße. «Er hat mich gerettet.» Es war sein Schicksal.

Denn er war Restaurateur, Ronaldo fing an für ihn zu arbeiten. «Ich bin Autodidakt.» Nun sitzt er hier vor der Bank, klebt abgebrochene Hände und Köpfe wieder an, bringt neue Farbe auf, er beherrscht sein Handwerk. 90 Prozent seiner Arbeit besteht aus Privataufträgen, von kleinen bis zu lebensgroßen Heiligenfiguren ist alles dabei. Und wo lässt er abends alles? «Da, das ist mein Lager». Er zeigt auf einen geparkten, kaum noch fahrtüchtigen weißen VW-Bulli. Keine Angst hier vor Überfällen? Schließlich sind es teils sehr wertvolle Unikate. «Nein, das ist meine Familie hier, wir passen aufeinander auf.» 

Drei Kinder (28,18,7) hat der 53-Jährige, die Arbeit ernährt sie. Aber Geld zurücklegen für die Rente? Über die sehr europäische Frage lacht er. «Nein, da denke ich jetzt nicht dran.» Und Olympia? «Kommt zum falschen Zeitpunkt, wir haben überhaupt kein Geld dafür über.»

HUNDEFRISEUR: Die ganze Straße ist ziemlich auf den Hund gekommen. Einmal im Jahr werden die Vierbeiner mit Sonnenbrüllen und Perücken ausstaffiert, dann gibt es den Hundekarneval. Jetzt, im Winter, wo das Thermometer schon einmal unter 20 Grad fällt, werden den Hunden gerne Woll-Überzieher angelegt. Und auch wenn gerade Krise ist, am guten Aussehen wird nicht gespart. «Waschen und Haareschneiden» steht an der Tür. Drinnen steht ein großer weißer Chow Chow im Wind von zwei 3500 Watt starken Heißluftföhnen. 15 Euro kostet das Schneiden, Waschen, Föhnen, mehr als ein normaler Herrenschnitt. «Hier haben 80 Prozent der Leute einen Hund», meint Claudio Ribeiro (39). Er wohnt in der Favela Rocinha, hat eine Ausbildung zum Hundefriseur gemacht.

Mit einem elektronischen Scheider stutzt er das Fell eines Pudels. «Pro Tag schaffe ich 15 bis 16 Hunde», berichtet Claudio. Es gehört zu den Eigenarten der Menschen hier, dass für viele der Hund das Ein und Alles ist. Copacabana hat einen Rentneranteil von geschätzt 60 Prozent – die Vierbeiner sind für einige auch Begleiter gegen die Einsamkeit. Es dämmert bereits, der Tag neigt sich zu Ende, bei Alfredo wird das Bier für den Abend in den Kühlschrank eingeräumt.

Die Tisch-Samba ist der Abendsound der Almirante Gonçalves, wo die Leute noch viel miteinander quatschen, statt in Smartphone-Welten einzutauchen. Im Eingangsbereich von Alfredos Bip Bip hängt ein Zettel: «Wir haben kein Wifi: Bitte unterhaltet Euch untereinander.»

Fotocredits: Peter Bauza
(dpa)

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