Rios «Chinesen»-Pass

Rio de Janeiro (dpa) – Es hat schon Radrennfahrer aus Europa gegeben, die kamen in Rio de Janeiro an und meinten, hier gäbe es keine echte Herausforderung. Und fielen dann oben völlig erschöpft fast vom Rad.

Viele verbinden die Olympiastadt 2016 eher mit Samba und Fußball als mit Rennradfahren. Aber wer einmal an einem Samstag den steilen Pass zum Vista Chinesa erklommen hat, wird erstaunt sein. Hunderte Radler, teils mit High-Tech-Carbonrädern im Wert von rund 10 000 Euro, quälen sich hier hoch. Da ist zum Beispiel Flavio Costa, er hat ein Trikot mit dem Schweizer Kreuz an, dreimal die Woche fährt er die Strecke mit ein paar Kumpels, um 06.30 Uhr geht es los, vor der Arbeit.

Ist das nicht langweilig, immer diese gleiche Strecke? «Nein, in welcher Metropole kann man einen Traum-Pass mitten durch tropischen Urwald hochfahren?», meint Flavio. «Und die Strecke ist schwierig, ich habe jedes Mal den Ehrgeiz, meine Bestzeit zu verbessern.»

Dann schwingt er sich aufs Rad und pedaliert nach oben. 10,2 Prozent Steigung im Schnitt, knapp vier Kilometer ist der Pass bis zum Vista Chinesa auf 502 Metern Höhe lang, einem fantastischen Aussichtspunkt mit Blick auf Copacabana, Cristo und Zuckerhut. Hier steht eine 1903 errichtete chinesische Pagode, daher auch der ungewöhnliche Name.

Etwas weniger steil geht es von dort weiter bis zum höchsten Punkt, dem Mesa do Imperador. Bis hierhin sind es vom Start des Passes 4,7 Kilometer. Wer will, kann noch weiterfahren und die große Schleife hoch zum Cristo fahren. Die Radrennprofis werden beim olympischen Straßenrennen am 6. August von der anderen Seite hochfahren, satte dreimal, und dann vom Mesa do Imperador über den Vista Chinesa bis zum Ziel in Copacabana rasant abfahren; ein Teil der Strecke wurde extra mit einer neuen Asphaltdecke versehen. Die anspruchsvolle Olympia-Strecke weist 241,5 Kilometer und 4600 Höhenmeter auf.

Treffpunkt der Radsportszene ist unten die Bäckerei «Século XX» (20. Jahrhundert), beim Botanischen Garten. Dutzende Radler stärken sich hier nochmal, bevor es rein geht in den 40 Quadratkilometer großen Nationalpark Tijuca. Aber schon die Anfahrt hierhin von Copacabana ist vom Feinsten. Die aufgehende Sonne, das Meer, die Berge. Erst fährt man 3,5 Kilometer am Meer lang bis zum Strandviertel Ipanema, dann einen Kilometer nach rechts und entlang an der Lagune Rodrigo de Freitas, wo die Olympischen Ruder- und Kanuwettbewerbe ausgetragen werden – immer den Cristo oben auf dem Corcovado-Felsen im Blick.

Kurz nach dem Botanischen Garten geht es dann nur noch hoch. Auf der Pass-Strecke ist auch Luiza Portella unterwegs, die 31-Jährige erklimmt zügig Kehre um Kehre, an einem Wasserfall sitzen Affen an der Strecke. «Hier ist man mitten in der Natur, ich fahre mindestens dreimal die Woche hoch», sagt sie. Ihre Bestzeit über die knapp fünf Kilometer bis zum «Mesa do Imperador»: 26:45 Minuten. Sie arbeitet bei einer Werbeagentur und ist wie eine wachsende Zahl der Radler in Rio de Janeiro Mitglied in einem Radclub. Gerade an Wochenenden ist das hier quasi die «Autobahn» und Trainingsstrecke der Rennradszene.

Anders als in Kolumbien, das in Nairo Quintana einen der besten Radrennfahrer der Welt hat, ist Brasilien bisher eine Diaspora. Auch weil es kaum größere Gebirge gibt. Aber allein in Rio gibt es bereits rund 450 Kilometer an Radwegen, auch der normale Radverkehr nimmt zu.

Am Pass sind auffallend viele Frauen unterwegs. «Jetzt im Winter trainieren sie Beine und Po für den Sommer am Strand», meint ein Fotograf, der mit Fotos der Bergankünfte ein paar Real verdient. Zwei junge Frauen sind recht gemächlich unterwegs, aber mit sehr teuren Rädern, sie brauchen rund 38 Minuten. Typische Radler-Fragen wie nach dem Gewicht des Renners kann Valentina Ferraz (27) nicht beantworten. «Keine Ahnung, ich habe erst vor sechs Monaten damit angefangen.» Ihrem Freund zuliebe – der schaffe die Strecke aber in 21 Minuten.

Nach den Mühen des Hochfahrens fahren viele die gleiche Strecke wieder runter, ein beliebter Treffpunkt ist unten am Start des Passes der Radladen «Intense Bike Shop», hier wird schon vormittags als Belohnung ein kaltes Bierchen getrunken, im Fernsehen läuft eine Pyrenäen-Etappe der Tour de France. «Solche Berge bräuchten wir hier auch», meint einer. Ein anderer zeigt auf seinem GPS-Gerät die Highscores: Ein Radler namens Antonio Garnero ist die 4,7 Kilometer bis nach oben in rasanten 14:03 Minuten hochgefahren, der Rekord nur zum Vista Chinesa sind 11:23 Minuten, ein Schnitt von 18,6 km/h.

Auf der Vista-Chinesa-Strecke patrouilliert jeden Tag von 7 bis 19 Uhr eine Polizeistreife. An der Lagune Rodrigo de Freitas wurde 2015 ein Arzt ermordet und sein teures Rennrad geraubt. «Hier ist noch nie etwas passiert», meint Sergeant Milton Fernades. Und er hat eine Beobachtung gemacht: «Je früher der Morgen, desto schneller die Radfahrer.» Die Befürchtung, dass nach Olympia wegen der Finanznot Rios die Polizeipräsenz aus Kostengründen zurückgefahren werden könnte, kann er dementieren: «Wir werden hier weiter aufpassen.»

Fotocredits: Peter Bauza

(dpa)
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