Der Pinguin Koch und die harten Seiten seines Sports

Darmstadt (dpa) – Wer etwas von Freud und Leid des deutschen Schwimmens erfahren will, kann bei einem Besuch im Darmstädter Nordbad viel entdecken. Dort, wo die Welt am Beckenrand noch ein wenig heiler scheint als anderswo, altmodischer vielleicht.

In Wurfweite eines Vereinskiosks mit familienfreundlich niedrigen Preisen für Snacks und Eis am Stiel sind Weltspitze und gemächliche, ältere Freizeitschwimmer im Wasser nur durch eine gelbe Leine getrennt. Marco Koch trainiert hier. In der hessischen 150 000-Einwohner-Stadt. Unter Bedingungen, über die manch anderer Topathlet in einem modernen Leistungszentrum die Nase rümpfen würde.

Die benachbarte Schwimmhalle als renovierungsbedürftig zu beschreiben, ist nicht nur angesichts manch blinder Scheibe eine Untertreibung. Immerhin besitzt das Außenbecken einen schicken, blanken Stahlboden.

Retro sind dagegen die Startblöcke aus den 1980ern. Im Kraftraum stehen anstelle von Hightech-Geräten einfache Langhanteln bereit. «Die Bedingungen sind für den Hochleistungssport nicht perfekt, aber das kann einen auch weiterbringen», sagt Koch und grinst: «Wenn man aus Darmstadt kommt, kommt man überall zurecht.»

Ob andere Spitzensportler zu verwöhnt sind? «Das könnte sein», antwortet der 26-Jährige und kann sich ein Grinsen schon wieder nicht ganz verkneifen. Gut erzogen, wie er ist, schiebt Koch rasch nach, er könne da nur für sich sprechen.

Der Weltmeister über 200 Meter Brust ist die größte Goldhoffnung der deutschen Schwimmer bei den Olympischen Spielen. Sie werden am 5. August in Rio de Janeiro eröffnet.

Kochs Weg nach ganz oben war alles andere als leicht und vorgezeichnet. Vielmehr oft mühsam. Gerade deshalb lohnt ein genauerer Blick in Kochs Welt, um eine scheinbar paradoxe Situation des Schwimmens in Deutschland begreifbarer zu machen: Eine der reichsten Nationen will einerseits zu den führenden Olympia-Ländern gehören. Gleichzeitig lernen weniger Kinder schwimmen. Und die Zahl der Badeunfälle steigt seit Jahren – trotz 2500 Schwimmvereinen in Deutschland.

«Das ist natürlich traurig», sagt Koch. Aber er kann auch kleine Dinge würdigen. Er sei froh, jeden Morgen auf den Nebenbahnen Schulklassen zu sehen.

Dass Sport-Ass Koch in dem öffentlichen Bad fast unbehelligt bleibt, hat Gründe. Einerseits sind Schwimmer hierzulande schon lange keine Stars mehr wie eine Franziska van Almsick (38), die sich auch nach dem Karriereende in den Gesellschaftsspalten der Medien findet. Und dann ist da die Optik: Wenn Schwimmbadbesucher Koch in Badehose sehen, kommt ihnen nicht sofort der Gedanke, den wohl weltbesten Brustschwimmer vor sich zu haben.

EINE ART
PINGUINFORM

Andere Schwimmer wirken athletischer, die Muskulatur ist erkennbarer, definierter. Koch hat einen weichen, fast fließenden Körperbau, der Uneingeweihten nicht austrainiert erscheinen mag. «Eine Art Pinguinform, sehr weiche Haut, sehr außergewöhnlich, kein Schwabbel», erläutert Heimtrainer Alexander Kreisel, der Koch seit 14 Jahren betreut. Diese Körperkondition verhilft Koch aber unter Wasser zum besten Gleiten überhaupt.

Optimale Körpereigenschaften sind aber nur das eine: Bis zum potenziellen Olympiasieger musste Kreisels Schüler mehrere Zehntausend Trainingskilometer im Wasser zurücklegen. Und darin liegt ein Hauptproblem, wenn es um Nachwuchsmangel geht. Nicht nur für den Deutschen Schwimm-Verband (DSV), sondern auch für weite Teile des Spitzensports hierzulande. Für viele Kids ist der klassische Wettkampf nach intensiver Vorbereitung weder sexy noch zeitgemäß.

Als finanziell oder wenigstens ideell lohnend wird Leistungssport außerhalb etwa des lukrativen Profifußballs oder von Tennis schon lange nicht mehr auf breiter Front wahrgenommen. Das liegt nicht nur an den wuchernden Doping-Problemen. Die Gründe für den häufig schweren Stand des Sports sind vielfältig, mögliche Lösungen weniger.

MAMA UND DER MIKROKOSMOS DARMSTADT

Ohne familiäre Hilfe, menschliche und finanzielle, wäre der Weg vieler hoffnungsvoller Nachwuchsschwimmer schnell zu Ende. Marco Kochs alleinerziehende Mutter fuhr ihren Sohn aus dem Odenwald 40 000 Kilometer pro Jahr nach Darmstadt zum Training. Die zwei schreckten auch die harten Trainingszeiten lange vor dem Frühstück einer Normalfamilie nicht.

Unterhalt habe der Vater nicht gezahlt, erzählt Koch. Erst später zog die Familie um. «Wie viel sie geopfert hat, wird einem erst Jahre später richtig bewusst», sagt Koch. Sein enges Umfeld bedeutet ihm viel. Er weiß, was er den drei wichtigsten Menschen dort zu verdanken hat.

Die Mutter muss ihn heute nicht mehr fahren, stattdessen achtet sie mit auf seine Ernährung. Seine Freundin Reeva ist selbst aktive Schwimmerin, startet für den Verein DSW 1912 Darmstadt bei deutschen Meisterschaften über Freistilstrecken. Nebenbei kümmert sie sich um Marcos Facebook-Auftritt. Einen Manager hat und braucht Koch nicht – eine Ausnahme selbst unter weit weniger erfolgreichen Sportlern.

Der Fernstudent der Wirtschaftspsychologie kann inzwischen vom Schwimmen leben. «Momentan komme ich ganz gut zurecht», sagt Koch. Anders als andere deutsche Schwimmer bestreitet er viele Wettkämpfe, so auch fast alle der lukrativen Weltcup-Stationen. Daher wird Koch nach seinem Olympia-Rennen am 10. August nicht weitere Sport-Events in Rio anschauen, sondern zurück nach Europa fliegen. Pro Rennen gibt es ein paar Tausend Euro zu verdienen, die gesamte Serie ist mit einer Million Euro dotiert.

Im Geld baden kann Koch aber nicht: «Es ist jetzt nicht so, dass ich mit 30 Jahren sage, fein, jetzt spiele ich nur noch Golf.»

TRAINER – KEIN TRAUMBERUF 

Reich wird Kochs langjähriger Trainer Alexander Kreisel erst recht nicht. «Wenn meine Frau nicht arbeiten würde, könnte ich den Job auch nicht machen, um meine Familie zu ernähren. Das allein würde nicht reichen», erzählte der zweifache Familienvater bei der Europameisterschaft im Mai in London. «Man erfreut sich an den Erfolgen der Sportler.»

Zwei Monate später an einem kühlen Juli-Abend in Darmstadt muss sich Kreisel – anders als Trainer an einem Bundesstützpunkt für den Leistungssport – nicht nur um die Spitzenathleten kümmern. Neben Koch betreut er knapp 30 Vereinsschwimmer. Nicht selten fühlt sich Kreisel zwischen Vereinsinteressen, den Wünschen des Nachwuchses dort und der Betreuung von Deutschlands Gold-Kandidaten zerrissen: «Das kann sehr aufreibend sein.»

Generell hat der hiesige Leistungssport abseits des Fußballs ein Trainerproblem. Die überschaubare Entlohnung dürfte so manchen Kandidaten abschrecken. Die Zahlen qualifizierter Trainer als Hochschulabsolventen sind rückläufig. Im Ausland ist dieser Beruf teils anerkannter und deutlich besser bezahlt. In der Schwimm-Nation USA etwa ist der Trainer von Rekord-Olympiasieger Michael Phelps, Bob Bowman, ein allseits respektiertes Sprachrohr.

Schwimmen lockt dort die Massen. Allein die Vorläufe der Olympia-Qualifikationen besuchten vormittags 14 000 Zuschauer in der ausverkauften Halle in Omaha. Bei den deutschen Meisterschaften kommen neben Eltern und Vereinskollegen fast nur Experten.

NACHWUCHS IM STRESS 

Kochs Weg in die Weltelite war geprägt vom familiären Einsatz. In der Regel entwickelt sich der Aufstieg in die Spitze in Deutschland zum Spagat zwischen Ausbildung und Sport. Wobei die vielerorts verkürzte Schulzeit Teil des Problems wurde. Bei acht statt neun Jahren bis zum Abitur – da ist schon von Schülern ohne hohes Trainingspensum für eine Sportlerkarriere Einsatz gefragt. Wenn die Jungs und Mädchen regelmäßig trainieren wollen, bedarf es anderer Lösungen: Die hoffnungsvollsten Schwimm-Talente stammen meist aus den bundesweit 43 Eliteschulen des Sports.

So etwa der 17-jährige Johannes Hintze. Er ist der jüngste deutsche Olympia-Schwimmer seit rund 40 Jahren und lobt seine Schule in Potsdam in den höchsten Tönen.

«Ich profitiere davon, dass sich der Abiturzeitraum über vier Jahre streckt und dass Lehrer mit ins Trainingslager geschickt werden können», sagt Hintze. Über die 400 Meter Lagen wird zu Beginn der olympischen Schwimm-Wettbewerbe (6. August) neben Hintze auch der 21-jährige Jacob Heidtmann starten.

Der WM-Fünfte zog 2012 als Minderjähriger von Elmshorn in Schleswig-Holstein in das Hamburger Sportinternat. Auf der angelagerten Eliteschule des Sports am Alten Teichweg machte Heidtmann zwei Jahre später sein Abitur. Teils über 70 Stunden pro Woche muss der Nachwuchs in Schule und Leistungssport investieren – da steigen einige aus.

DIE EINE-MILLION-EURO-IDEE

Henning Lambertz ist Chefbundestrainer der deutschen Schwimmer und brachte vor Jahresfrist eine plakative Summe ins Spiel, um den Leistungssport wieder attraktiver zu machen: Eine Million Euro solle jeder Olympiasieger bekommen. «Das ist möglich, ist nur die Frage: Wollen wir das? Es ist gar kein Problem, sich das finanziell leisten zu können», sagt Lambertz und verweist auf höhere Prämien oder gar Renten für Olympiasieger im Ausland. In Deutschland zahlt die Sporthilfe 15 000 Euro für Gold (siehe Hintergrund). Die Resonanz auf Lambertz‘ Vorschlag war unter Sportlern oder Trainern meist positiv.

Franziska van Almsick gewann 1992 als 14-Jährige ihre erste von insgesamt zehn Olympia-Medaillen. Für das Mitglied im Aufsichtsrat der Deutschen Sporthilfe kann Geld nicht alleinige Motivation sein. «Vielleicht gibt es im Moment die Tendenz, dass viele viel erreichen wollen, aber ohne großen Aufwand. Und schinden wollen sie sich auch nicht. Das Leben soll ja schließlich Spaß machen. Was das Gesellschaftspolitische angeht, da haben wir noch ganz viel Arbeit vor uns», sagt die zweifache Mutter.

Diese Tendenz hat auch das 69 Jahre alte Trainer-Urgestein Norbert Warnatzsch ausgemacht. «Die Kinder huldigen heutzutage dem Sport nicht mehr so, wie das vor Jahrzehnten war. Heute gibt es so viele andere Interessensgebiete», sagt der Ex-Coach von Olympiasiegerin Britta Steffen (32).

SCHWIMMEN KÖNNEN – EINE FRAGE DES ÜBERLEBENS 

Bei aller Diskussion um Nachwuchskonzepte, Motivation oder den gesellschaftlichen Stellenwert: Schwimmen ist eine Sportart, die im Alltag über Leben und Tod entscheiden kann. 2015 ertranken nach Angaben der Deutschen Lebens-Rettungs-Gesellschaft (DLRG) mindestens 488 Menschen, deutlich mehr als im Vorjahr. Das war der höchste Stand seit neun Jahren. Unter den Badetoten: 25 Kinder. Jedes zweite Kind, das die Grundschule verlässt, könne nicht schwimmen, warnt die DLRG.

Nicht nur für Franziska van Almsick besteht dringender Handlungsbedarf: «Man muss es in naher Zukunft politisch einfordern, Schwimmunterricht wieder fest in den Schulsport zu integrieren. Schwimmen ist lebensrettend. Wer nicht schwimmen kann, kann ertrinken», sagt sie. Neben van Almsicks Stiftung kümmert sich nun auch der Schwimm-Verband – unterstützt vom Disney-Konzern – darum, wieder mehr Familien mit Kindern fürs Schwimmen zu begeistern.

Olympia-Teilnehmer Johannes Hintze findet das wichtig: «Damit weniger Unfälle passieren. Da werde ich bei meinen eigenen Kindern einmal großen Wert drauf legen.» Und Weltmeister Marco Koch guckt gerne hin, wenn auf der Bahn neben ihm Darmstädter Schulklassen das Einmaleins des Schwimmens lernen: «Das macht mich glücklich, dass es hier in Darmstadt zumindest noch halbwegs funktioniert.» Dieses Stück heile Welt im Nordbad ist abends für Kinder bereits für einen Euro Eintritt mitzuerleben.







Fotocredits: Frank Rumpenhorst,Frank Rumpenhorst,Frank Rumpenhorst,Frank Rumpenhorst,Frank Rumpenhorst,Frank Rumpenhorst,Frank Rumpenhorst

(dpa)
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