Rebell, Mahner, Gutmensch: «Zettel-Ewald» Lienen wird 65

Hamburg – Manchmal ist es Hassliebe, was Ewald Lienen mit dem Fußball verbindet. Nicht der Ballsport an sich wühlt ihn auf, sondern das, was andere daraus machen.

Das war schon früher so, als er langmähnig über den Rasen stürmte und seine Haarpracht wild umherflog. Und das ist heute, da er seinen 65. Geburtstag begeht, nicht anders. Ewald Lienen ist eine Marke im deutschen Fußball.

Der frühere Profi von Arminia Bielefeld, Borussia Mönchengladbach und MSV Duisburg ist ein Querdenker. Beileibe nicht nur im Spiel elf gegen elf. Das gilt für fast alle Bereiche der Gesellschaft von der Erziehung der Kinder, über Waffenexporte, Hunger in der Welt, Auswirkungen sozialer Medien und bis zu Klimakatastrophen. Der Ex-Trainer und 333-malige Bundesligaspieler hat so ziemlich zu jedem Thema eine starke Meinung.

Der Systemkritiker beklagt die ungerechte Verteilung der Reichtümer in der Welt und die hemmungslose Profitgier. Er fordert, dass auch in der Gesellschaft des Kapitals der Mensch im Mittelpunkt stehen sollte. Dabei ist der frühere Linksaußen seiner politischen Ausrichtung immer treu geblieben: Links schlägt das Herz.

Früher musste er sich beeilen, um es nach dem Bundesliga-Training rechtzeitig zur Friedens-Demo zu schaffen. Heute geht es der Technische Direktor des Zweitligisten FC St. Pauli gelassener an. Zwei seiner Grundsätze: «Es ist der Sinn des Lebens, an sich zu arbeiten und sich weiterzuentwickeln» und «Es ist das Vorrecht der Jugend, Dinge extremer zu sehen».

Eine Kostprobe früher Radikalität: «Meine Unterschrift ist nicht mehr wert als deine. Im Zirkus von Brot und Spielen trete ich nicht als Autogramme schreibender Held auf.» So begründete der Europacupsieger von 1979 einst seine Weigerung, einem Fan ein Autogramm zu geben. Diese Extremzeiten des «linken Rebellen» sind aber vorbei.

Manchmal platzt ihm aber trotz Altersmilde der Kragen – wie im vergangenen Sommer. «Die Arroganz, die Jogi Löw und die Nationalspieler an den Tag gelegt haben, war hanebüchen», echauffierte sich Lienen über die blutleere WM-Vorstellung der deutschen Nationalmannschaft und sprach von einem «erbärmlichen Gesamtkunstwerk».

In Erinnerung bleibt die Verletzung, die er sich im Bundesliga-Spiel gegen Werder Bremen im August 1981 zugezogen hatte. Werder-Profi Norbert Siegmann hatte dem Bielefelder bei einer Grätsche den Oberschenkel auf einer Länge von rund 25 Zentimetern aufgeschlitzt. Was tat Lienen? Er hinkte zu Werder-Trainer Otto Rehhagel und beschimpfte ihn als Provokateur.

Wechselvoll war sein späteres Engagement als Trainer. An 15 Stationen hielt er es im Schnitt 1,87 Jahre aus. Zum Abschied gab es bisweilen auch böse Worte, weil sich Lienen falsch bewertet oder hinters Licht geführt fühlte. Als Trainer war er ein Pedant. «Zettel-Ewald» ist die nette Umschreibung seiner Arbeitsweise. Beim Spiel notierte der Coach alles, was ihm so ein- und auffiel.

Lienen wird auch künftig nicht aufhören zu mahnen. Der zweifache Vater beklagt die rigorose Kommerzialisierung, geißelt Finanzexzesse bei Gehältern und Transfers, warnt vor 50+1. Ins Gewissen redet er auch Vermarktern und Medien: «Wir sind dabei, den Profifußball zu überhöhen. Auch ohne Profifußball würden wir morgen alle wieder aufstehen. Die aktuelle Entwicklung ist gefährlich.» Rundum wohl fühlt er sich beim FC St. Pauli. Der Grund? «Hier werden Werte vertreten und gelebt, die auch meine Werte sind.»

Fotocredits: Daniel Bockwoldt
(dpa)

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