Wenn Passagiere bei Kreuzfahrten verschwinden

Hamburg – Wasserrutschen an Bord, überbordende Buffets und fulminante Unterhaltungsprogramme: Moderne Kreuzfahrtschiffe werben mit einem Luxus, der oft selbst Sterne-Hotels in den Schatten stellt.

Die Industrie boomt seit Jahren, beflügelt von Urlaubern, die sich neben exotischen Hafen-Stopps auf bis zu 16 Decks Entspannung und Entertainment erhoffen. Doch manchmal entpuppt sich die Urlaubsidylle als Alptraum.

So wie jetzt im Fall einer britischen Touristin, die am Samstagabend (18. August) in der kroatischen Adria von einem Kreuzfahrtschiff stürzte und erst nach zehn Stunden aus dem Meer gerettet wurde. Hier ging die Sache glücklich aus. Doch manche Passagiere bleiben verschwunden – nicht nur durch Unfälle. Der Strafrechtler und TV-Anwalt Alexander Stevens geht sogar so weit, das Kreuzfahrtgeschäft als «ein Eldorado für Mordgetriebene» zu beschreiben.

«Tatsächlich verschwinden im Schnitt jedes Jahr über 20 Menschen von Bord eines Kreuzfahrtschiffes», erläutert
Ross Klein, Professor für Maritime Studien von der kanadischen Universität Neufundland auf Anfrage der Deutschen Presse-Agentur (dpa). Insgesamt 315 solcher Fälle hat der Kreuzfahrt-Experte seit dem Jahr 2000 dokumentiert.

Ein Teil der Vermisstenfälle sei auf Suizide zurückzuführen, erklärt der Experte, andere Fälle seien das Resultat unglücklicher Unfälle, oft als Folge von Alkoholmissbrauch. «Besorgniserregend ist jedoch, dass es in rund 30 Prozent aller Fälle keinen Anhaltspunkt gibt, was mit den Passagieren geschehen sein könnte», sagt Klein.

Für die Hinterbliebenen folgen in der Regel Jahre der quälenden Ungewissheit. Ein Mann, der dies am eigenen Leib erleben musste, ist der Amerikaner Kendall Carver. Seine erwachsene Tochter Merrian verschwand 2004 von Bord eines Kreuzfahrtschiffes. «Als Angehöriger habe ich sehr gelitten. Nicht nur, weil ich einen geliebten Menschen verloren habe, sondern vor allem, weil die Reederei mit allen Mitteln versucht hat, den Vorfall zu vertuschen», erzählt er sichtlich bewegt per Videoanruf.

Die Tragödie beginnt am 1. September 2004, als Carvers Tochter plötzlich für mehrere Tage nicht zu erreichen ist. Carver findet heraus, dass sie Tickets für ein amerikanisches Kreuzfahrtschiff gekauft hatte. Er ruft die Reederei an, die ihm nach drei Tagen bestätigt, dass Merrian zwar an Bord gewesen sei, aber nach der zweiten Nacht ihre Kabine nicht mehr benutzt habe.

«Hier begann für uns die Odyssee», sagt der alte Mann, tiefe Trauer in der Stimme. Nach Carvers Darstellung verweigert die Reederei seiner Familie die Kooperation und behauptet, Videoaufnahmen seien längst überspielt worden. «Sie haben alles Mögliche getan, die Ermittlungen zu behindern», sagt Carver. Er alarmiert das FBI, engagiert Privatdetektive und reicht am Ende Klage ein. «Ich wollte mich von dieser milliardenschweren Maschinerie nicht unterkriegen lassen», sagt er.

Viereinhalb Monate später entscheidet ein Gericht, dass Carver mit dem Steward sprechen darf, der für die Kabine seiner Tochter zuständig war. Dieser sagt aus, dass er Merrian bereits nach zwei Tagen vermisst gemeldet habe. Sein Vorgesetzter habe ihn jedoch angewiesen, die Sache einfach «zu vergessen». Später habe dieser ihre persönlichen Gegenstände einfach entsorgt. «Jetzt wussten wir, dass wir es mit einer Vertuschungsaktion zu tun hatten», sagt Kendall, seine Stimme bebend vor Wut.

«So schockierend das klingen mag – es ist fast schon ein typisches Verhalten», urteilt Ross Klein. Negative Presse sei schlichtweg schlecht für das Geschäft. «Kreuzfahrtschiffe sind ein Wohlfühlprodukt. Deshalb würden Reedereien fast alles tun, um negative Berichterstattung zu verhindern», meint er.

Auf Anfragen der dpa zu dem Branchenthema reagieren nur wenige Reedereien. Eine davon ist der deutsche Kreuzfahrt-Riese Aida. «Die Sicherheit unserer Passagiere ist für uns die oberste Priorität», sagt Martina Reuter, Pressesprecherin von Aida Cruises, dem deutschen Zweig der britisch-amerikanischen Carnival-Gruppe. Das Problem an Notfallsystemen bei Mann über Bord sei, dass es dafür noch keine internationalen Standards gebe. «Trotzdem arbeitet Carnival an einer technischen Lösung», sagt sie.

Aida-Konkurrent Tui Cruises («Mein Schiff») will sich nicht äußern und verweist auf den Verband der Kreuzfahrtindustrie Clia (Cruise Lines International Association). Dort heißt es, heutige Kreuzfahrtschiffe seien die sichersten, die jemals unterwegs gewesen seien. Sicherheitsvorkehrungen wie etwa einheitliche Mindesthöhen für die Reling seien da, um zu verhindern, dass Passagiere, die sich verantwortungsvoll verhalten, von Bord fallen können. «Es sind keine Fälle bekannt, bei denen jemand, der sich verantwortungsvoll benommen hat, versehentlich über die Reling eines Kreuzfahrtschiffes gefallen ist.»

Die Kreuzfahrtgesellschaft MSC Cruises hatte Ende 2017 die Einführung eines videobasierten Notfallsystems an Bord seines neuesten Flaggschiffes verkündet und sieht sich hier als Branchenvorreiter. Das hochmoderne System soll Mann-über-Bord-Notfälle schneller und zuverlässiger erkennen.

Der Fall der verschwundenen Merrian bringt am Ende doch noch etwas Positives mit sich. Rund 14 Monate nach ihrem Verschwinden gründet Kendall Carver die
«International Cruise Victims»-Organisation, eine Vereinigung, die nach eigener Darstellung «Opfer der Kreuzfahrt-Industrie» vertritt. «Wir wollten eine Plattform schaffen, auf der sich Angehörige gegenseitig unterstützen und auch politisch etwas ins Rollen bringen können.» Dank seines Einsatzes verabschiedet der US-Kongress 2010 den «Cruise Vessel Security and Safety Act».

Dieser sieht unter anderem 250.000 US-Dollar Strafe für Reedereien vor, wenn das Verschwinden eines Passagiers nicht innerhalb von vier Stunden gemeldet wird. Zudem schreibt er vor, dass Schiffe, die US-Häfen ansteuern, ein automatisches Man-Overboard-System installiert haben müssen. Grund zum Feiern ist das für die Hinterbliebenen jedoch nicht.

«Viele Reedereien haben das System auch bis heute nicht installiert. So kann es Stunden dauern, bis das Verschwinden eines Passagiers bemerkt wird», sagt
Jim Walker, einer der prominentesten Anwälte für Seerecht aus Miami, per Videochat. Er behauptet: «Den Reedereien geht es nur ums Geld. Es ist günstiger, einen Vermisstenfall zum Selbstmord zu deklarieren, als in teure Sicherheitssysteme zu investieren.»

Fotocredits: Kathrin Deckart
(dpa)

(dpa)
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