Wie Island den Tourismus bändigt

Reykjavik – Popstar Justin Bieber war letztens hier, vor Jahren auch mal Angelina Jolie, davor wurde für «James Bond» gedreht. Nun inspiziert das chinesische Paar Zhongda He und Nannan Li die isländische Gletscherlagune Jökulsárlón. Die zwei kommen aus Peking und Shanghai.

Sie schippern mit einem Amphibienfahrzeug über das eiskalte Wasser. Mit anderen Touristen treiben sie an meterhohen Eisbergen vorbei, die von dem riesigen Gletscher am Horizont, dem Vatnajökull, abgebrochen sind. Li starrt durchs Fernglas auf die Eismonster. He ist sprachlos. Dann sagt er: «Das ist großartig.»

Wie dem chinesischen Paar geht es vielen Island-Urlaubern. Die Vorfreude auf Geysire, Wasserfälle und Gletscher hat sie zum Abenteuerurlaub in den hohen Norden gezogen. Naturspektakel pur!

Islands Popularität bei Reisenden ist in den vergangenen Jahren durch die Decke gegangen. Dabei spielte ein Ereignis eine Rolle, das anfangs eher negative Gefühle auslöste: der dramatische Ausbruch des Vulkans am Gletscher Eyjafjallajökull 2010 und dessen Aschewolken. Er legte über Wochen den internationalen Flugverkehr lahm und machte die Nordatlantikinsel weit über die Grenzen Skandinaviens hinaus bekannt.

Seither ist die Zahl der Touristen explodiert: 2010 waren knapp 489.000 Menschen nach Island gereist. 2018 kamen 2,34 Millionen. Das entspricht nahezu einer Verfünffachung in nur acht Jahren.

Ein kleines Wikinger-Völkchen

2,34 Millionen Reisende klingt im Vergleich zu anderen Ländern nicht gigantisch – zumal das Land in etwa die Größe des gesamten Osten Deutschlands hat. Aber die Zahl bedeutet: mehr als das Sechsfache der Bevölkerung Islands. Auf der Insel leben rund 350.000 Menschen – und damit lediglich etwas mehr als zum Beispiel in Bielefeld.

Die Mengen strömen aus aller Welt heran. Gerade boomt das Land in China und Indien, aber auch in Russland. Die Zahl deutscher Gäste ist zwischen 2010 und 2018 von rund 54.000 auf etwa 140.000 gestiegen.

Was macht das mit dem kleinen Wikinger-Völkchen? Gudny Valberg hat den Boom zunächst einmal für sich genutzt. Ein Foto ihrer Farm, die sie mit ihrem Mann Ólafur Eggertsson betreibt, prangte einst auf den Titelseiten internationaler Zeitungen, als der Eyjafjallajökull direkt hinter dem Hof Asche spuckte.

«Als das hier passiert ist, war das die vielleicht größte Werbung für Island», erinnert sich Valberg. Die Reisenden kamen. Die Familie eröffnete ein Besucherzentrum am Fuße des Gletschers.

Irgendwann ist es zu viel geworden. Das Paar machte das Zentrum Anfang 2018 dicht. Mehrere der Kinder, die geholfen hatten, waren weggezogen. Die Eltern alleine konnten die Informationsgier der Urlauber – neben ihrer Arbeit auf dem Bauernhof – nicht mehr stillen.

Ein Vulkanausbruch als Touristenmagnet: In der Hauptstadt Reykjavik rund 140 Kilometer nordwestlich vom Eyjafjallajökull sieht es die Direktorin der Tourismusbehörde Visit Iceland, Inga Hlín Pálsdóttir, ähnlich: «Plötzlich haben die Leute realisiert, dass da eine Insel mitten im Atlantik ist», sagt sie. Vorher hätten die meisten nicht einmal gewusst, wo sie Island auf der Weltkarte verorten sollten. Nun merken sie, dass eine Reise dorthin gar nicht so lange dauert – von Berlin aus benötigt der Flieger dreieinhalb Stunden.

Hinzu kommt, dass das Auftreten der fröhlichen Isländer bei der Fußball-EM 2016 und der Weltmeisterschaft 2018 dem Land ein Gesicht gab.

Auf den Spuren von Angelina Jolie

Und noch etwas lockt die Touristen: Filme, Serien und Musikvideos. Ben Stiller spazierte in «Das erstaunliche Leben des Walter Mitty» durch Stykkishólmur und andere isländische Orte. Szenen von «Game of Thrones» wurden auf Island gedreht, genauso wie Teile von «James Bond – Stirb an einem anderen Tag» und «Star Wars – Rogue One». Angelina Jolie fuhr als Lara Croft in «Tomb Raider» über den Jökulsárlón. Dort verweist die chinesische Touristin Nannan Li bei den Gründen ihrer Reise darauf, dass sie Teile Islands bei «Game of Thrones» gesehen habe. Kurzum:
Island ist fotogen – gerade auch für Hollywood.

Damit stellt sich die Frage, ob die Popularität mit Island machen wird, was sich etwa auf dem Markusplatz in Venedig, der Ramblas-Flaniermeile in Barcelona und dem Nyhavn in Kopenhagen beobachten lässt: Die Touristen kommen in Scharen – und manche Einheimische fühlen sich an den Rand gedrängt. Solche Gefühle kennen auch Menschen in Berlin und München.

Manche Isländer sind in den Sommermonaten jedenfalls genervt. In einem Café in Reykjavik sagt einer, der Tourismus habe das Land nach der Finanzkrise 2008 zwar vor der Rezession gerettet. Nun brauche man das Geld der Touristen aber nicht mehr. «Es ist genug Geld da.»

Dichtes Gedränge in Bunten Outdoor-Jacken

Der Parkplatz vor Reynisfjara, dem schwarzen Strand bei Vik, der im Star-Wars-Film «Rogue One» zu sehen ist, bis auf den letzten Platz gefüllt. Leute in bunten Outdoor-Jacken tummeln sich vor einer Gesteinsformation. Eine junge Japanerin kriegt beim Fotografieren des Meeres gerade noch die Kurve, um sich vor einer hohen Welle in Sicherheit zu bringen. Ein Chinese ist hier 2018 vom Wasser ins Meer gezogen worden und gestorben.

Am Wasserfall Skogafoss ist der Parkplatz an diesem Vormittag ebenfalls randvoll: sieben Busse, ein gutes Dutzend Wohnmobile, zudem Mietwagen. Nebenan stehen ein Hotel und ein Hostel. Restaurants bieten Suppe und Lachs zu üppigen Preisen an.

Das gleiche Bild wiederholt sich an den weiteren Naturspektakeln: gelbe, rote, blaue Outdoor-Jacken am Wasserfall Gullfoss und am Großen Geysir, der allen weiteren Wasserfontänen dieser Art auf der Welt seinen Namen gegeben hat.

Auf der Insel klumpt es sich vor allem im Süden. Die Ringstraße, die das Land umrundet, hat in diesem Gebiet Spuren davongetragen. An vielen Stellen wird der Asphalt nachgebessert. Und die Isländer erleben, was sie bis dato kaum kannten: umferdarhnútur – Stau. Wenn man in einem steht, sieht man am Steuer der anderen Autos häufig hippe Mädels um die 20 mit coolen Mützen. Letztens musste ein Canyon vorübergehend geschlossen werden, weil er nach einem Besuch von
Justin Bieber urplötzlich zum Touristenmekka geworden war.

«Es ist genug Platz da»

Der Journalist und Autor eines Island-Buchs Thilo Mischke versucht, mindestens einmal pro Jahr auf die Insel zu kommen. Er berichtet: «Island wird jedes Jahr voller. Aber es ist genug Platz da.» Überlaufen sei vor allem der Goldene Ring. Sobald man diesen aber verlasse, stünden sich die Menschen nicht mehr auf den Füßen.

Und genau das ist es, womit Island seinen Tourismus in eine nachhaltige Zukunft führen will: bisher eher vernachlässigte Regionen bewerben und die Nebensaison außerhalb der relativ warmen Sommermonate Juni bis August attraktiver machen.

Während im Juli maximal rund 90.000 Reisende nach Island gekommen sind, waren es im Winter bislang nur 30.000, wie Pálsdóttir, die Visit-Iceland-Direktorin, vorrechnet. Das größte Wachstum sei in der Nebensaison verzeichnet worden. Ein Fokus werde nun darauf gelegt, andere Regionen zu fördern, denn der Großteil der Island-Gäste reise eben vor allem nach Reykjavik, in den Süden und auf den Goldenen Ring – «unseren Eiffelturm», wie Pálsdóttir sagt.

Besonders wichtig ist den Einheimischen ein Schutzfonds für touristisch genutzte Sehenswürdigkeiten. Daraus können Gelder beantragt werden, um Wege, Toiletten und andere Infrastruktur entstehen zu lassen. Die Regierung prüft zudem die Einflüsse des Tourismus auf Wirtschaft, Infrastruktur und Soziales, um rechtzeitig zu erkennen, ob es irgendwo hakt. «Die ersten Ergebnisse zeigen, dass wir das Limit noch nicht erreicht haben», sagt Pálsdóttir.

Wundermittel Regulierung

Reykjavik mit dem nahen internationalen Flughafen Keflavik bleibt dabei das zentrale Tor auf die Insel. Nahezu alle Reisenden besuchen während ihres Urlaubs die Hauptstadt. «Das ist sowohl eine gute als auch eine schlechte Sache», sagt die Leiterin des lokalen Touristenamtes Visit Reykjavik, Karen María Jónsdóttir.

Als sie beschreibt, was der Boom mit ihrer Stadt gemacht hat, schweift sie in ihre Kindheit ab. «Ich erinnere mich daran, wie ich einst zur Schule gegangen bin und niemand auf den Straßen in Reykjaviks Zentrum unterwegs war», sagt sie. Mittlerweile ist nicht nur der Laugavegur, die zentrale Einkaufsstraße, prall gefüllt, sondern auch andere Viertel der Stadt.

Reykjaviks Zauberwort heißt Regulierung: Große Busse wurden auf Wunsch der Anwohner aus dem Stadtkern verbannt. Es wurden viele dringend benötigte Hotels gebaut, die sich laut Jónsdóttir über die Stadt verteilen. Museen, Kunstgalerien und Bars liegen nicht nur im Zentrum, sondern auch in anderen Gebieten wie dem Alten Hafen.

Heute sei die überwiegende Mehrheit in der Stadt der Ansicht, dass die Touristen die Lebensqualität verbesserten, sagt Jónsdóttir. «Die Leute sind zufrieden mit der Anzahl und Vielfalt der Angebote.»

Im Jahr 2019 erlebt Island mittlerweile etwas, was es in diesem Jahrzehnt noch nie gegeben hatte: sinkende Zahlen. Gründe dafür sind, so sagt Pálsdóttir, unter anderem die Pleite der Billigfluglinie Wow Air und die Probleme des Pannenfliegers Boeing 737 Max. «Wir machen uns zurzeit aber keine Sorgen», versichert Pálsdóttir.

Von einer Überfüllung wie in Venedig, sagt sie, sei Island weit entfernt. Und in Sachen Gedränge kommt es ohnehin auf die Perspektive an: Die Chinesen He und Li genießen die aus ihrer Sicht immer noch geringe Menschendichte. «Das hier ist so anders als China. Wir sind so sehr an städtische Gebiete mit großen Bevölkerungszahlen gewöhnt. Hier ist es wild und leer. Das ist das Paradies für uns», sagt Nannan Li.

Fotocredits: Steffen Trumpf,Steffen Trumpf,Steffen Trumpf,Steffen Trumpf,Steffen Trumpf,Steffen Trumpf,Steffen Trumpf,Steffen Trumpf,Steffen Trumpf,Steffen Trumpf,Steffen Trumpf,Steffen Trumpf,Steffen Trumpf,Steffen Trumpf,Steffen Trumpf,Julia Wäschenbach,Ragnar Th. Sigurdsson,Asgeir Valgerdarson,Jens Koch,Eythor Arnason,Abedin Taherkenareh,S. Olafs
(dpa)

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